Das Gehirn – ein echter Nachtarbeiter
Das Gehirn – ein echter Nachtarbeiter
Während das Gehirn arbeitet, fallen Abfallstoffe an (zellulärer Detritus, also Reste untergegangener Zellen, Proteinabfälle und vieles mehr), die überflüssig oder gar schädlich sind und daher entsorgt werden müssen.
Das ordnungsgemäße Funktionieren neu gebildeter Proteine hängt essentiell von ihrer dreidimensionalen Gestalt, also ihrer korrekten Faltung, ab. Fehlerhafte Eiweißstoffe müssen daher entsorgt werden, sonst kommt es zu ihrer Anhäufung in sogenannten Aggregaten. Eine Reihe neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer wird mit solchen aggregierten Rückständen in Verbindung gebracht. Daher ist ihr Abtransport für das Gehirn von großer, ja sogar lebenswichtiger Bedeutung. Wir sprechen in diesem Zusammenhang nämlich keineswegs von Abfallmengen im niedrigen Milligramm-Bereich. Experten schätzen, dass pro Tag in unserem Gehirn Rückstande in einer Größenordnung von mehreren Gramm anfallen, die einer geordneten Entsorgung zugeführt werden müssen – eine gewaltige Aufgabe.
Müllentsorgung – aber wie?
Im übrigen Körper übernehmen die Lymphgefäße, die den gesamten Organismus wie ein Röhrensystem durchziehen, diese Arbeit. Ein solches Netzwerk besitzt das Gehirn aber nicht. Das lymphatische System endet außerhalb des Gehirns an der Hirnhaut. Im Gehirn übernimmt diese wichtige Reinigungsfunktion das sogenannte Glymphatische System (Wortneubildung aus Glia und lymphatisches System). Es besteht aus feinsten Kanälen, die um die Blutgefäße herum angeordnet sind, dem perivaskulären Raum. Hier fließt Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, angetrieben durch die vom Pulsschlag ausgelösten Wellenbewegungen der Arterienwände. Dieser sogenannte Liquor cerebrospinalis nimmt Abfälle auf, die nach dem Transport durch die perivaskulären Räume, das lymphatische System und den allgemeinen Blutkreislauf schließlich in Leber und Niere aufgearbeitet oder entsorgt werden.
Warum ist ein solches Müllentsorgungssystem nötig?
Hirnzellen bauen die meisten Abfallstoffe nicht selbst ab. Bei der Entsorgung von Abfallstoffen beschränkt sich das Gehirn nach neueren Erkenntnissen lediglich auf die Ausschwemmung der schädlichen Stoffe und überlässt den Rest den anderen Organen, die ohnehin darauf spezialisiert sind. An dieser Sonderform des Drainage-Systems zeigt sich einmal mehr die Besonderheit des Gehirns, das ja auch in Bezug auf andere Aspekte häufig eine Sonderstellung unter unseren Organen einnimmt.
Entsorgung im Schlaf
Es konnte experimentell gezeigt werden, dass der perivaskuläre Raum im Wachzustand nur ein sehr kleines Volumen annimmt. Hier kann also nur wenig Spülflüssigkeit unterwegs sein. Anders sieht es während der Schlafphasen aus: Der interstitielle Raum (so wird der Raum zwischen den Zellen genannt) vergrößert sich stark und ein perivaskulärer Flüssigkeitsstrom wird ermöglicht. Die Entsorgung der gebildeten Abfallstoffe vollzieht sich daher vor allem nachts. Es zeigt sich gerade im Zusammenhang mit der zellulären Müllentsorgung aus dem Gehirn, wie wichtig der Schlaf für das problemlose Funktionieren unseres Nervensystems ist. Ein interessanter Befund in diesem Kontext: Im Tierexperiment führte Schlafentzug zu einer stärkeren Akkumulation von Abfallstoffen, darunter auch die für Demenz verantwortlich gemachten Eiweißpartikel, die Amyloide.
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Literatur
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